"Unlesbarer Mist" bei Wikipedia?
Das Nachschlagewerk nur ein „Vorschlagewerk“?
Die PR-Maschine läuft auf Hochtouren. Berichte über Wikipedia gibt es überall. Kein Tag vergeht, an dem nicht in den Medien über dieses Online-Lexikon berichtet wird. Ob es sich um den 300.000. Lexikoneintrag handelt oder ob es um einen von den Wikipedia-Machern veranstalteten Schreibwettbewerb geht, das Thema Wikipedia ist in, und der Tenor der Berichte ist in den allermeisten Fällen positiv. Kritik, wenn sie denn überhaupt je auftaucht, wird nur sehr vorsichtig geübt und geht unter all den Lobeshymnen meistens unter. So erregte ein Artikel auf bildungsclick.de zwar kurzzeitig die Gemüter, weil er Wikipedia als nicht verlässliches „Vorschlagewerk“ abqualifizierte, an dem jeder mitarbeiten und deshalb auch Inhalte nach seinem Gusto verfälschen könne. Jeder Artikel sei deshalb nur eine Momentaufnahme, seine Inhalte könnten sich morgen schon wieder geändert haben. Die „Aufregung“ dauerte nur wenige Tage – „offizielle“ Stellungnahmen gab es dazu nicht.
Theoretisch gut – praktisch unbrauchbar
Bei der jetzt von Nicholas Carr geübten vernichtenden Kritik ist alles etwas anders. Wikipedia-Mitbegründer Jimmy Wales höchstpersönlich hat sich zu Wort gemeldet – und, was noch erstaunlicher ist, er gab Carr Recht. Carr hatte in einem Weblog-Eintrag kaum ein gutes Haar an Wikipedia gelassen. Theoretisch sei die Wikipedia ja eine gute Sache, hatte Carr erklärt. Praktisch aber sei das Online-Lexikon nicht zu gebrauchen. Es sei zwar nützlich, und Carr selbst schlage oft bei Wikipedia nach, um sich über ein Thema grob zu informieren. Wenn es aber um Fakten gehe, dann könne man sich auf Wikipedia-Artikel keinesfalls verlassen. Darüber hinaus hatte Carr auch den Stil kritisiert, in dem die beiden Artikel geschrieben waren. Alles in allem sei Wikipedia als verlässliche Quelle nicht zu empfehlen, brachte Carr seine Kritik auf den Punkt.
Was Sie über Bill Gates und Jane Fonda nie wissen
wollten Carrs Kritik basierte im Wesentlichen auf zwei Wikipedia-Artikeln der englischen Ausgabe über nicht ganz unbedeutende Personen der Zeitgeschichte: die US-Schauspielerin Jane Fonda und den Microsoft-Gründer Bill Gates. Beide Artikel, die mittlerweile von den Wikipedia-Machern als dringend „überarbeitungsbedürftig“ eingestuft werden, wurden von Carr ausführlich zitiert und am Ende mit dem Satz kommentiert, sie seien schlechter als schlecht und symptomatisch für viele andere Wikipedia-Artikel. Ein Lexikon dürfe nicht an seinen guten Einträgen, sondern müsse an seinen schlechten Artikeln gemessen werden. Denn gerade die bestimmen letztlich die Verlässlichkeit. Carr hat Recht – zumindest bei den beiden zitierten Wikipedia-Beiträgen. Wer sich den irrelevanten Blödsinn durchliest, der beispielsweise über Jane Fonda verzapft wurde, muss sich tatsächlich fragen, warum sich ein solcher Unfug überhaupt so lange als Lexikonartikel halten konnte. Entsprechendes gilt für den hanebüchenen Gates-Artikel.
Kollaborativ zur Wahrheit
Wikipedia-Mitbegründer Jimmy Wales ist offenbar ähnlicher Meinung – zumindest bei den beiden von Carr zitierten Artikel. Sie seien „schrecklich peinlich“ und „nahezu unlesbarer Mist“, erklärte Wales. „Warum? Was können wir tun?“ Mit diesem Statement scheint Wales eine Kehrtwende vollzogen zu haben. Bisher schmetterten Wikipedianer fast gebetsmühlenartig jede Kritik stets mit dem Argument ab, wer einen schlechten Artikel finde, könne ihn ja verbessern. Außerdem spiegele jeder Artikel immer nur einen bestimmten Wissensstand wieder und könne deshalb nicht perfekt sein. Das Prinzip der kollaborativen Bearbeitung der Artikel führe aber schließlich doch irgendwann zum sachlich richtigen Artikel. Mit jeder Änderung nähere man sich tendenziell der „Wahrheit“ an.
Ein Hauch von Selbstkritik
Bei den von Carr kritisierten Artikeln scheint das Prinzip nicht funktioniert zu haben. Beide Artikel standen schon länger bei Wikipedia im Netz, und beide beziehen sich auf prominente Personen. Würde das Prinzip der Wikipedia-Wahrheitssuche tatsächlich funktionieren, hätten die beiden Artikel also keine Chance haben dürfen. Wales sieht das wohl ähnlich. Er hätte kein Problem gehabt, schreibt er, wenn es beispielsweise um einen Dichter des 13. Jahrhunderts gegangen wäre. Aber die Artikel über Gates und Fonda seien wichtige Artikel und nicht neu. Deren miserable Qualität ist aber trotzdem bisher keinem Wikipedianer aufgefallen.
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