Es ist nicht leicht, lieb gewonnene Vorurteile in den Müll zu werfen. Manchmal liegt es an der eigenen Trägheit, zuweilen aber auch an jenen Künstlern, die wir vorschnell abtun, weil von ihnen längere Zeit nichts Interessantes mehr zu hören war. Damit wären wir bei Green Day. Es war in den letzten Jahren still geworden um die Herren Billy Joe Armstrong, Trés Cool und Mike Dirnt. Kein Wunder, ihr Pubertätspunk füllte ein paar gute Alben - danach schien der Ideenfundus aufgebraucht. Drei Akkorde, pubertäre Lyrik über Onanie und Langeweile, hektische Trommelei und Punkattitüde sind eben doch nicht abendfüllend. Green Day hatten ihr Pulver verschossen - so das Vorurteil. Ihr Spaßpunk hatte ausgedient. Wer wärmt denn schließlich Schnee von gestern auf?
Niemand! Und die ehemaligen US-Spaßpunker von Green Day erst recht nicht. Denn "American Idiot", das neue Album, trumpft ganz gehörig auf. Das Titelstück und Songs wie "St. Jimmy" sind musikalisch zwar immer noch die knackigen Punkrockkracher aus der alten Green-Day-Schule, kurz, direkt und schnörkellos. Aber Textzeilen wie "Don't wanna be an American idiot - One nation controlled by the media" lassen ahnen, dass es unter der gängigen Punkrockoberfläche wider Erwarten noch immer ganz gewaltig und neuerdings sogar politisch brodelt.
Und dann stellt man auch noch mit Erstaunen fest, dass Green Day etwas geschaffen haben, was für eine reine Punkband Frevel ist: "American Idiot" ist ein Konzeptalbum. Die rotzige Punkattitüde schlägt zwar (zum Glück) noch durch. Doch so musikalisch abwechslungsreich, so lyrisch, so wütend, so gut hat man Green Day schon lang nicht mehr gehört.
"Jesus of Suburbia", "St. Jimmy" und "Whatsername" hat Green-Day-Mastermind Billy Joe Armstrong die Protagonisten seiner Punkrock-"Oper" getauft, desillusionierte Typen, frustriert von den herrschenden Zuständen im reaktionären Amerika des George Walker Bush und angewidert von der künstlich geschürten Sicherheits- und Terrorhysterie. Ihre Reaktionen reichen von Wut über Verzweiflung bis hin zu Realitätsverleugnung und Flucht aus dem Alltag. Ihre Hoffnung auf Veränderung haben die drei Titelhelden mittlerweile aufgegeben - was wiederum beweist, dass Green Days Punk-Nihilismus damals nicht aufgesetzt und schicke Attitüde war, sondern auch und gerade im Bush-Amerika von heute immer noch Geltungskraft besitzt.
Musikalisch ist "American Idiot" ein ungewöhnlicher Parforceritt - nicht nur für eine ehemalige Drei-Minuten-Knüppel-Combo. Das Schlüsselstück dieses Albums heißt "Jesus of Suburbia". Es dauert gute neun Minuten, ist in fünf musikalische Themen aufgeteilt und bringt, wie der deutsche "Rolling Stone" (Ausgabe 10/2004) vermerkt, "mehr stilistische Wendungen", als Green Day in ihrer gesamten Karriere bisher zusammengenommen vorzuweisen hatten - gut formuliert, doch reichlich übertrieben. Gab's von Green Day doch auch früher Ohrwurmmelodien wie beispielsweise "Time of your life", die schon damals bewiesen, dass Green Day mehr draufhaben als jene berüchtigten drei Punkakkorde.
"American Idiot" ist perfekt produziert, ohne steril zu wirken. Stücke wie das ergreifende "Boulevard of broken dreams" oder das melancholische "Wake me up when September ends" berühren, ohne kitschig zu wirken. "Homecoming" schließlich, das zweite Neun-Minuten-Stück dieser CD, zeigt, wie abwechslungsreich und spannend Green Day heutzutage klingen können.
"Es ist leichter, einen Atomkern zu zertrümmern, als ein Vorurteil", soll Albert Einstein einmal gesagt haben. Im Fall von Green Day reicht es aus, "American Idiot" durchzuhören - wie es sich gehört natürlich laut, ähm, sehr laut, bitte - egal, ob Ihre Nachbarn Green Day mögen…
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